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Title
Die unsichtbare Guillotine. Das Fallbeil der Weißen Rose und seine Geschichte


Author(s)
Trebbin, Ulrich
Published
Regensburg 2023: Pustet
Extent
232 S.
Price
€ 24,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hans Günter Hockerts, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Mindestens 1.180 Menschen sind in der NS-Zeit im Gefängnis München-Stadelheim mit der Guillotine hingerichtet worden – Zeugnis der barbarischen Strafjustiz im nationalsozialistischen Deutschland. Nach 1945 hielt sich lange das Gerücht, das Gerät sei bei Kriegsende in die Donau versenkt worden. Im Jahr 2013 stieß der Journalist Ulrich Trebbin jedoch auf eine andere Spur, die zum Bayerischen Nationalmuseum führte. Der dort zuständige Referent nahm die Anfrage zum Anlass für eine intensive Recherche – mit dem Zwischenergebnis, dass es sich bei den im Depot verwahrten Einzelteilen sehr wahrscheinlich um die in München-Stadelheim verwendete Guillotine handele.

Diese Meldung, von Trebbin 2014 veröffentlicht, fand ein starkes mediales Echo, sogar in der internationalen Presse.1 Dabei sorgte der Prominenz-Faktor für einen hohen Nachrichtenwert. Denn zu den Opfern des Stadelheimer Fallbeils zählten auch die Geschwister Scholl und mehrere Mitstreiter aus dem Kreis der Weißen Rose. Sogleich entbrannte eine Debatte über den richtigen Umgang mit der Tötungsmaschine: Sollte man sie ausstellen? Auf das Votum eines Runden Tischs gestützt, entschied der bayerische Kultusminister, dass die Guillotine bis auf weiteres nicht öffentlich ausgestellt werden dürfe. Allerdings ist zu vernehmen, dass einige Beteiligte sich in der Beratung überrumpelt fühlten. Neuerdings bekräftigte der Nachfolger des Ministers die ablehnende Entscheidung, mit der Ulrich Trebbin jedoch ganz und gar nicht einverstanden ist. Daher möchte er eine öffentliche Debatte entfachen, für die das vorliegende Buch eine Grundlage bilden soll.

Der Autor greift bis zum Jahr 1854 zurück. Damals entschied der bayerische König Maximilian II, künftige Exekutionen nicht mehr mit Schwerthieben, sondern mit einer „Fallschwertmaschine“ durchführen zu lassen – den Begriff „Guillotine“ vermied man wohlweislich, weil er an die Terrorphase der französischen Revolution erinnerte. Den Konstruktionsauftrag erhielt der Münchner Turmuhrfabrikant Johann Mannhardt, der zwei vollständige Guillotinen (für München und Würzburg) lieferte und außerdem fünf Unterbauten für weitere Städte, zu denen die Scharfrichter dann mit dem „Fallbeilrahmen“ anzureisen hatten. Trebbin folgt den Spuren ihrer Verwendung und nimmt dabei auch übergreifende Zusammenhänge in den Blick, insbesondere die Geschichte der Todesstrafe, den Wandel des Zeremoniells der Enthauptung und den zunehmenden Ausschluss der Öffentlichkeit. Er erläutert die Funktionsweise der Apparatur und ihre Veränderungen und flicht immer wieder Fallbeispiele ein, die ein beklemmendes Licht auf das Schicksal der Verurteilten werfen.

Bis 1932 starben unter der Münchner Guillotine 124 Männer und eine Frau. Der weibliche Sonderfall datiert aus der frühesten Phase (1857); danach wurden zum Tode verurteilte Frauen durchweg begnadigt. Die gewaltige Steigerung in der NS-Zeit verweist, wie Trebbin zeigt, auf die völkische Ideologie, den zertrümmerten Rechtsstaat und den Justizterror der Kriegsjahre. Zu Recht betont er, dass mit den Enthauptungen gleichwohl nur ein Teil der Vernichtungspolitik in den Blick kommt: Hinzu kamen mehr und mehr Hinrichtungen durch den Strang und die Erschießung verurteilter Gefangener sowie das Morden, das sich gar nicht mehr um einen justizförmigen Anschein bemühte. Trebbin berichtet über die wachsende Zahl der Hinrichtungsstätten und der eingesetzten Guillotinen (elf wurden im Gefängnis Berlin-Tegel hergestellt), er fasst die Scharfrichter ins Auge und stellt die Opfergruppen vor. Fast die Hälfte der Stadelheimer Opfer waren Ausländer, darunter Zwangsarbeiter und Widerstandskämpfer aus den annektierten Gebieten. Soweit es sich bei den Todesurteilen auch nach heutiger Rechtsauffassung um Straftaten handelte, reicht das Spektrum von Bagatelldelikten bis zum Mord. In dieser Hinsicht trifft Trebbin eine klare Unterscheidung: Wir erinnern uns an Mörder „nicht in ihrer Eigenschaft als Gewalttäter, sondern als Opfer der Todesstrafe“ (S. 106). Vor allem aber geht es ihm um die Gruppe der politisch Verfolgten, deren Anteil er auf 27 Prozent beziffert: „Die allermeisten von ihnen sind heute weitgehend unbekannt“ (S. 124).

Bei Kriegsende wurde die Stadelheimer Guillotine in die Strafanstalt Straubing ausgelagert und 1949 zur Überprüfung ihrer Verwendungsfähigkeit – es handelte sich noch immer um die Mannhardt-Maschine von 1855 – nach Regensburg gebracht. Im bayrischen Justizministerium rechnete man also noch mit dem Fortbestand der Todesstrafe, die jedoch im selben Jahr mit der Einführung des Grundgesetzes abgeschafft wurde. Danach verstaubte das in Einzelteile zerlegte Gerät auf dem Speicher des Regensburger Gefängnisses, bis es 1974 – vermittelt vom Justizministerium – in das Depot des Bayerischen Nationalmuseums kam. Die Öffentlichkeit erfuhr von alldem nichts, und auch im Museum befasste man sich nicht näher mit diesem Depotbestand. Nur gerüchteweise blieben dort die Stichworte „Stadelheim“ und „Geschwister Scholl“ im Umlauf. Erst 2013 begann ein neuer Referent, Sybe Wartena, mit der gründlichen wissenschaftlichen Aufarbeitung, und er konnte die Sachverhalte, die 2014 als wahrscheinlich eingestuft worden waren, inzwischen eindeutig klären.2 Im Kontakt mit ihm informierte Ulrich Trebbin eine breite Öffentlichkeit zunächst mit journalistischen Berichten, nun auch mit diesem Buch.

Man kann es auf zweierlei Weise lesen. Zum einen als wissenschaftlich fundierte Studie, die sich weitgehend auf die maßgebliche Forschung stützt, darunter das grundlegende Werk von Richard Evans über die Todesstrafe in der deutschen Geschichte3, aber mit Archivrecherchen auch eigene Akzente setzt. Zum anderen als erinnerungspolitische Streitschrift. Dem Freistaat Bayern wirft der Autor vor, die Münchner Guillotine „jahrzehntelang versteckt“ zu haben, und er hegt den Verdacht, dass damit womöglich auch die Geschichte der NS-Todesurteile aus dem Blick gerückt werden sollte. Zweifelsfrei belegbar ist dieses Motiv, das zeitweise eine Rolle gespielt haben mag, bisher allerdings nicht. Die Entscheidung des bayerischen Kultusministers, die Guillotine bis auf weiteres unter Verschluss zu halten, lehnt Trebbin als Akt der „Zensur“ ab. Zwar hält er manche Einwände für bedenkenswert – so die Gefahr des Voyeurismus und die Entwürdigung der Opfer, sofern die Aura eines Objekts aus der Sphäre der Täter nicht gebrochen wird. Doch argumentiert er mit gutem Grund, dass es eben auf die Präsentationsweise ankommt, auf Sensibilität und Kontextualisierung. So könnte dieser schreckliche Gegenstand zum Mahnmal werden; er könnte besonders wirkungsvoll zur kritischen Auseinandersetzung mit der Justiz in der NS-Zeit anregen und an ihre Opfer erinnern. Das Buch gibt Hinweise darauf, wie das möglich wäre. Den vielleicht besten Vorschlag hat indes der Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebeleit, an anderer Stelle ins Gespräch gebracht: „Das fände ich einen Kniff: die Frage, ob man diese Guillotine ausstellen darf, zum Thema einer Ausstellung zu machen. Dann könnte man das Objekt verwenden, zum Beispiel in einem zerlegten Zustand“.4

Anmerkungen:
1 Vgl. zum Beispiel den Bericht in The New York Times, 10.01.2014, https://www.nytimes.com/2014/01/11/world/europe/a-guillotine-in-storage-bears-signs-of-a-role-in-silencing-nazis-critics.html (27.01.2024).
2 Vgl. die prägnante Darstellung seiner Forschungsergebnisse: Sybe Wartena, Die Fallschwertmaschine in Bayern. Zwischen Humanisierung der Justiz und nationalsozialistischem Terrorregime, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 85 (2022), S. 411–473. Dort wird auch ein Grundproblem der Recherche verdeutlicht: Es war „unmöglich, die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, ob die 1974 aus Regensburg übertragene Teile aus Stadelheim stammen könnten, solang das System der Ober- und Unterteile und die Gesamtzahl der Guillotinen nach dem Modell Mannhardts nicht bekannt waren“ (S. 457). Trebbins Buch konnte sich bereits auf diese Abhandlung stützen.
3 Richard J Evans, Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte, 1532 – 1987, Berlin 2001. An Trebbins Kurzdarstellung der Weiße Rose ist zu korrigieren, dass Sophie Scholl „den Vervielfältigungsapparat“ der Gruppe beschafft habe (S. 129). Es gab vielmehr zwei Apparate, die von Hans Scholl und Alexander Schmorell besorgt wurden.
4 Zitiert bei Josef Wirnshofer, Hier gibt es nichts zu sehen, in: Süddeutsche Zeitung, 21.02.2023.

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